Als ich vor vielen Jahren das Autofahren lernte, machte mich mein Vater auf verschiedene Dinge aufmerksam, wie zum Beispiel auf Fahrer, die in meine Spur wechseln könnten, oder auf Autos vor mir, die plötzlich bremsen. Er sagte mir, dass man nach jahrelangem Fahren einen sechsten Sinn für Gefahren entwickelt. Obwohl mich sein ständiges Überwachen manchmal ärgerte, hatte er zweifellos recht.
Ähnlich verhält es sich mit der Führung eines Start-ups. Nach 25 Jahren und unzähligen Investitionen in Unternehmen und der Gründung von Start-ups erwarte ich das Unerwartete. Ich habe gelernt, Fallstricke zu erkennen und zu vermeiden, und nehme an, dass jeder Gründer dies ebenfalls tut. Doch wenn ich mit Erstgründern arbeite, bin ich oft überrascht, wie sie in offensichtliche Fallen tappen, die schon von weitem sichtbar sind. Leider kann man diese Erfahrung nur durch Praxis gewinnen, weshalb erfahrene Investoren oft erfahrene Gründer bevorzugen und warum ein erfahrenes Gründerteam von Anfang an entscheidend ist.
Um nicht zu belehrend zu wirken, möchte ich hier einige Fallstricke aufzeigen, die ich bei Erstgründern beobachte, und wie erfahrene Gründer sie vermeiden.
90 % Fertigstellung bedeutet, dass das Produkt erst zur Hälfte fertig ist.
Wenn das Produkt oder die Software fast fertig ist, beginnen Erstgründer mit der Planung von Kundenversuchen und intensivieren ihre Marketingaktivitäten. Sie sind oft überrascht, wenn sich die Veröffentlichung verzögert, dann erneut verzögert und wieder verzögert. Testen und Fehlersuche machen einen großen Teil der Arbeit aus. Eine benutzerfreundliche Oberfläche zu gestalten, ist oft schwieriger als das Schreiben des funktionalen Codes. Aus Prototypen ein Minimal Viable Product (MVP) zu definieren ist oftmals ein ebenso herausfordernder Prozess und ein MVP ist nicht zwangsläufig das fertige Produkt für die Serienfertigung.
Erfahrene Gründer wissen, dass es einen großen Unterschied zwischen einem Prototyp, der unter kontrollierten Bedingungen funktioniert, und einem kommerziellen Produkt gibt, das unter keinen Umständen ausfallen darf. Wenn das Produkt zu 90 % fertig ist, ist es tatsächlich erst zur Hälfte fertig.

Verkäufe brauchen oft viel Zeit, bis sie abgeschlossen sind.
Auch wenn Kunden Schlange stehen, um ein frühes Produkt auszuprobieren, dauert es oft lange, bis größere Verkaufszahlen erreicht werden. Bei B2B-Produkten müssen Kunden eine Testphase einplanen, das Produkt testen, Berichte schreiben, ein Budget festlegen und den Beschaffungsprozess durchlaufen. Was eigentlich in drei Monaten erledigt sein sollte, dauert in der Regel ein Jahr – und das nur für einen kleinen Erstkauf.
Anschließend müssen sie das Produkt monatelang in einer Produktionsumgebung einsetzen und ein weiteres Jahr für eine breitere Nutzung einplanen, bevor sie überhaupt mit der vollständigen Einführung beginnen können. Erfahrene Gründer wissen, dass es nicht drei Monate, sondern zwei bis vier Jahre dauert, bis eine große Anschaffung getätigt ist, mit vielen Meilensteinen und Fallstricken auf dem Weg dorthin.
Vertrieb ist jedermanns Sache
Unerfahrene Gründer neigen dazu, als erstes einen Vertriebsleiter einzustellen, in der Annahme, dass ein professioneller Verkäufer die Lösung für ausbleibende Umsätze ist. Doch das funktioniert selten.
Erfahrene Gründer hingegen wissen, dass der Vertrieb bis zum Erreichen von mindestens einigen Millionen Euro Umsatz (ARR, Annual Recurring Revenue) ein fortlaufendes Experiment zur Abstimmung von Produkt und Markt ist. Jeder im Unternehmen, insbesondere der CEO und der CTO, sollte direkt mit den Kunden sprechen, um deren Bedürfnisse, Nutzung und Einschränkungen zu verstehen.
Anbieter versprechen das Blaue vom Himmel und halten nicht, was sie versprechen
Anbieter versprechen oft das Blaue vom Himmel, doch halten selten, was sie versprechen. Die Naivität unerfahrener Gründer mag charmant wirken, doch sie kann auch äußerst frustrierend sein. Sie outsourcen die Produktentwicklung und sind dann schockiert, wenn es nicht wie geplant funktioniert. Sie erwarten, dass Vertragshersteller alle elektronischen Komponenten korrekt löten und die richtigen Chips verwenden. Sie gehen davon aus, dass wichtige Ressourcen ohne monatelange Verzögerungen verfügbar sind und dass wichtige Bestellungen nicht beim Versand verloren gehen.
Wer glaubt, der Beruf des Gründers sei glamourös, hat diesen Job noch nicht ausgeübt. Man verbringt den ganzen Tag und oft auch die Nächte damit, einen Notfall nach dem anderen zu bewältigen. Ich erkenne eine erfahrene Führungskraft daran, dass auf ihrer Visitenkarte „Hauptfeuerwehrmann“ statt CEO steht.
Erfahrene Gründer sind weder überrascht noch überrumpelt, wenn unvermeidliche Probleme auftreten. Sie sind auf alle Eventualitäten vorbereitet.
Einstellung und Entlassung sind die schwierigsten Aufgaben
Mitarbeiter sind Mitarbeiter, keine Gründer. Sie mögen an die Mission des Unternehmens glauben, aber am Ende ist es ein Job. Wenn sie ein besseres Angebot finden, werden sie gehen – oft zu den ungünstigsten Zeiten.
Kulturelle und persönliche Konflikte können bei einem kleinen Team von nur zehn Personen fatal sein. Ein großartiger Programmierer ist möglicherweise kein guter Manager, wenn das Unternehmen wächst. Menschen, die es gewohnt sind, in großen Unternehmen zu arbeiten, können möglicherweise nicht die vielen Rollen übernehmen, die in einem Startup erforderlich sind.
Viele Mitarbeiter beginnen als persönliche Freunde, und alle werden bald zu Freunden. Es ist herzzerreißend, aber wenn sie ihre Arbeit nicht erledigen können, bleibt keine andere Wahl, als sie höflich zu bitten, das Unternehmen zu verlassen.
Erstgründer haben oft wenig Erfahrung im Umgang mit Mitarbeitern und erkennen nicht, wie schwierig es ist. Erfahrene Gründer hingegen haben meist ein Netzwerk von Personen, mit denen sie in der Vergangenheit zusammengearbeitet haben, und wissen genau, wen sie für welche Rolle rekrutieren müssen.
Sparen an der falschen Stelle wird sich später rächen
Die Versuchung ist groß, möglichst schnell eine akzeptable Version des Produkts auf den Markt zu bringen, um Einnahmen zu generieren und Investoren zu gewinnen. Eine UG (Unternehmergesellschaft) oder GbR zu gründen, weil es günstiger und einfacher ist als eine GmbH, oder auf eine Vereinbarung über Eigentumsrechte und Patentanmeldungen zu verzichten, weil Anwälte teuer sind, kann verlockend sein.
Während der Code nachträglich angepasst werden kann, muss die Architektur von Anfang an stimmen, um spätere Probleme zu vermeiden. Rechtliche, buchhalterische und steuerliche Fragen müssen von Beginn an korrekt geregelt werden, da sie später nur schwer zu lösen sind. Patente sollten innerhalb eines Jahres nach der Produktfreigabe, wenn nicht sogar früher, angemeldet werden.
Erfahrene Gründer wissen, dass es sich lohnt, von Anfang an alles richtig zu machen, um die Kosten und den Aufwand für die spätere Beseitigung von Unordnung zu vermeiden.
Es ist eine lange und harte Reise. Genießen Sie sie.
Viele Gründer versichern Investoren, dass sie innerhalb von 3 bis 5 Jahren eine Übernahme erwarten. Unerfahrene Gründer glauben das tatsächlich.
Erfahrene Gründer hingegen wissen, dass der Aufbau eines Start-ups ein langwieriger und herausfordernder Prozess ist, der mindestens ein Jahrzehnt in Anspruch nimmt. Sie haben diese Achterbahnfahrt bereits erlebt und verfolgen diesen Weg nicht wegen des potenziellen Reichtums, sondern weil es nichts gibt, was sie lieber tun würden.